Ein großer Klang für Petershausen

Im Wunderwerk

Ein Musiker und sein Instrument im Porträt

Bild: Nico Jenni
Bild: Nico Jenni

von Nicolai Eckert und Marc-Julien Heinsch.

Für Martin Weber sind seine Hände Werkzeuge und Medien. Ihre 54 Einzelknochen, zahlreichen Gelenke, Bänder und mehr als 60 Muskeln müssen perfekt harmonieren. Erst dann erwecken sie die Orgel in St. Gebhard zum Leben und lassen die Empore über dem Narthex, der Vorhalle der Kirche an der Grenze zwischen Petershausen Ost und West, vibrieren.

„EIN GROSSER KLANG“ heißt es in gelben Lettern auf rotem Grund über ihrem Eingangsportal. Gemeint ist der Klang jener Orgel, die Martin Weber nicht nur regelmäßig spielt, sondern auch mitentworfen hat. Es ist ein Klang, der unter die Haut geht, der Räume und Menschen in Schwingung versetzt. Einer, der alle Sinne anspricht, der einen ergreift und mitreißt.

Sanft tropfen die Höhen aus den horizontalen Pfeifen, die direkt über dem Spielpult nicht zur Kirchendecke, sondern in den Raum hineinragen. Martin Webers Finger bespielen geschickt und routiniert das erste Manual. Seine Hände sind filigran und auffallend gepflegt, seine Fingernägel kurz und rundgefeilt, die umgebende Haut makellos.

Helle Trompeten schrauben sich das Langhaus entlang bis in die Seitenflügel hinein und vereinigen sich zu einer wirren Melodie. Weber hebt die rechte Hand und aktiviert weitere Register, der Ton wird voller, umfangreicher und ein warmer, dunklerer Klang strömt tief aus dem Inneren der Orgel. Mit den Füßen beginnt Weber, über das Pedal zu tanzen, und was jetzt geschieht, nimmt nicht nur das Ohr, sondern der ganze Körper wahr. Mariannengrabentiefe Bässe dringen in jede Zelle ein. Einzelne Töne verschmelzen zu einer virtuosen Spontankomposition. Beim Improvisieren überraschten ihn seine eigenen Hände manchmal, sagt der Organist, „die Hände sind schon Werkzeuge. Aber man macht viel mehr als nur Tasten zu drücken. Ich will ja mit Ausdruck spielen. Ich will Affekte erzielen und künstlerisch etwas aussagen. Was ich denke und fühle, das sollten die Hände durchlassen.“ Wenn Martin Weber spricht, kann seine Intonation die Karlsruher Herkunft nicht verleugnen. Der 40-Jährige ist seit 2011 Kirchenmusiker in St. Gebhard, freier Musiker, Orgellehrer und Jazzpianist. Er hat lichtes, dunkles Haar und große braune Augen mit auffallend langen Wimpern. Mit einem Schmunzeln erinnert er sich an sein erstes richtiges Konzert als Organist. Er war 16 und die Orgel ein paar hundert Jahre alt: „Das war ganz grausam!“ Mit erst einer Handvoll Stunden Orgelunterricht sollte er bei der Christmette spielen. „Die Orgel hatte kein Pedal und nur ein Manual, und es war eiskalt in der Kapelle.“ Weber musste mit Handschuhen spielen und die Tasten klemmten immer wieder, sodass die angeschlagenen Töne einfach stehenblieben. „Da habe ich zu meinem Vater gesagt: Ich kann da nicht alleine spielen. Du musst mitkommen! Also hat mein Vater die steckenden Tasten ständig von unten hochgedrückt“, erinnert sich der Organist. Trotz alledem verliebte sich Martin Weber in die Königin der Instrumente, wie die Orgel wegen ihrer orchestralen Bandbreite genannt wird.

An zwei der besten Musikhochschulen in Freiburg und Straßburg studierte er Kirchenmusik, Musik fürs Gymnasiallehramt und Orgel. Er spielt nicht nur Solokonzerte an besonderen Orgeln in ganz Europa, sondern ist auch selbst als Komponist tätig. In St. Gebhard spielt Weber ein ganz besonderes Exemplar. Pünktlich zum Beginn des Konziljubiläums im Juli 2014 ließ er das Instrument zum ersten Mal vor großem Publikum erklingen. Daher auch ihr Name: Konzilsorgel. Ihren Bau durch den Orgelbauer Claudius Winterhalter und dessen Team hat er überwachen und anleiten dürfen, sie ist nach seinen Vorstellungen und Wünschen gebaut: ein Herzensprojekt. Weber weiß, dass er mit dieser Orgel ein Instrument mitgestaltet hat, das in seiner Form einzigartig ist.

Weit über die Grenzen von Konstanz hinaus ist die Konzilsorgel bekannt. Durch ihre klangliche Vielfalt und Eigenheiten in ihrer Konstruktion – etwa ihr zweigeschossiges Schwellwerk. Ein solches ist sonst eher den ausinstrumenten in weltbekannten Kirchen wie der Pariser Notre Dame vorbehalten. „Mit einer vielfarbigen Orgel wie dieser kannst du die feinsten Gefühlsnuancen ausdrücken“, Webers Stimme bebt vor Begeisterung, „beim Spielen fällt dir so viel ein.“ Die hohe klangliche Flexibilität der Konzilsorgel macht es Organisten möglich, auf ihr Werke von klassischen Größen ebenso wie zeitgenössische Kompositionen zu interpretieren.

2009 beschädigte ein Hagelsturm die unspektakuläre Vorgängerorgel in St. Gebhard so stark, dass sie nicht länger bespielbar war. Eine neue konzerttaugliche Orgel musste her. Was Weber bis heute erstaunt und freut, ist die hohe Beteiligung der Konstanzer Bürgerinnen und Bürger an diesem Projekt. „Wir hatten die Vision und die richtigen Leute, die genial waren im Fundraising“, erklärt er. Mit Sebastian Vettels Formel-1-Wagen auf dem lokalen Oktoberfest, dem Sammeln von Pfandbons im Supermarkt und den sogenannten Pfeifenpatenschaften gelang es Weber und seinen Mitstreitern, den über eine Million Euro teuren Orgelbau zu finanzieren.

Das Wunderwerk im Inneren der Konzilsorgel mutet kaum weniger komplex an als das Innenleben der menschlichen Hand. Hölzerne Streben überkreuzen sich zu einem verwinkelten Geäst. Dutzende Wellen aus Karbon verlaufen zwischen Elementen aus Holz. Sie sind schlank wie die Saiten einer Gitarre, jedoch stabil genug, um den Tastenanschlag des Organisten mechanisch um Kurven und bis ins zweite Stockwerk des Orgelinneren zu übertragen. Im Obergeschoss öffnen sie die Ventile der 3306 Pfeifen, aktivieren die 72 Register und erlauben dem Orgelwind im Zusammenspiel mit der Schwingung der unterschiedlichen Materialien, die Orgel erklingen zu lassen. Martin Webers Hände mögen klein sein. Der Klang, den sie in perfekter Symbiose mit der Konzilsorgel erschaffen, ist groß.

Über die Autoren:

Marcs große Helden an der Orgel heißen Keith Emerson, Jon Lord, Ray Manzarek und Joakim Svalberg. Sie spielten die Hammond-Orgel in der Blütezeit der progressiven und psychedelischen Musik oder tragen ihren charakteristischen Klang im Progressive Metal der Neuzeit weiter. Marcs erster Kontakt zur „klassischen“ Orgel fand nun auf eindrückliche Weise in der St. Gebhard-Kirche statt, wo er direkt in ihr Innenleben eintauchen durfte.

Nicolai erstand vier Schallplatten der Orgelkonzerte von Johann Sebastian Bach, gespielt von Helmut Walcha für zwei Euro auf dem Konstanzer Nachtflohmarkt. Der Schnäppchenpreis lässt allerdings keine Rückschlüsse auf seine Liebe zu dem Instrument mit der monumentalen Wucht eines ganzen Orchesters zu. Die ist so ausgeprägt, dass er seine Nachbarn mit seiner riesigen Anlage gerne daran teilhaben lässt.

NUN, Magazin für Konstanz und Kreuzlingen
Ausgabe #3 „Zehnfingerhelden“, April 2019
Fotos: Nico Jenni

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